«Die Stimmung war am Siedepunkt»
Die Verfassung bildet das oberste Gesetz eines modernen Rechtsstaates, sie normiert die Verteilung der staatlichen Macht auf die verschiedenen Träger dieser Macht. Damit ist bereits die zentrale Bedeutung einer Verfassung klar: sie bildet die Grundlage für jedes staatliche Handeln, sie zieht aber auch die Grenzen des staatlichen Handelns und garantiert die Grundfreiheiten der Menschen, die in diesem Staat leben. Verfassungen sind deshalb auch immer nur so gut, wie sie von ihren Trägern gelebt werden.
Allein die Tatsache, dass wir das Privileg haben, das hundertjährige Jubiläum unserer Verfassung zu feiern, beweist, wie gelungen das Werk der Schöpfer unserer Verfassung ist. Und dass die Verfassung von 1921 – wie man bei uns so schön sagt – tatsächlich «verhebt», dafür liefert auch die heutige Landtagssitzung beredtes Zeugnis.
Erlauben Sie mir einen kurzen Rückblick auf den Weg zur Verfassung von 1921.
Die Stimmung in den alten Monarchien Mitteleuropas kippte während und nach dem Ersten Weltkrieg. Nachdem auch in Liechtenstein anfangs noch eine gewisse «Kriegsbegeisterung» zu spüren war und man sich hierzulande mit den Mittelmächten Deutschland und Österreich solidarisiert hatte, standen nach dem Fall der beiden Monarchien die Zeichen auch in Liechtenstein auf «Mehr Demokratie». Die unmittelbare Nachbarschaft zur Schweiz, die seit 1848 über eine moderne Bundesverfassung mit direktdemokratischen Rechten verfügte, tat das Übrige, so dass auch in Liechtenstein die Stimmen immer lauter wurden, die mehr Mitbestimmung des Volkes forderten.
Die Verfassung von 1862 hatte deshalb ausgedient. Es war eine Gruppe rund um den Gründer der Volkspartei, Dr. Wilhelm Beck, welche die Interessen der oppositionellen Demokratiebewegung in Liechtenstein artikulierten und in der Öffentlichkeit Druck erzeugten. Grosser Stein des Anstosses war zudem die Tatsache, dass der Regierungschef Liechtensteins bislang stets ein Ausländer, konkret ein aus Wien entsandter Vertreter des Fürstenhauses war. Viele Liechtensteiner wollten dies nicht mehr akzeptieren. Es war eine revolutionäre Stimmung – und der Ton war nicht immer freundlich.
Gleichzeitig darbte die Bevölkerung: «Viele Leute haben nichts zu essen, was müssen diese denken, wenn man ihnen statt Brot Munition und Waffen gibt?», fragte Wilhelm Beck im Novemberlandtag 1919, als die Gründung einer Bürgerwehr zur Debatte stand. «Ob man etwa die Verfassung im Schatten der Bajonette so zurechtrücken möchte, dass sie würdig werde den alten Zuständen?», fragte er.
Die Atmosphäre war aufgeheizt, die Stimmung am Siedepunkt – Liechtenstein ist knapp an gewalttätigen Auseinandersetzungen von Verfechtern für mehr Demokratie und Bewahrern der herrschenden Zustände vorbeigeschrammt.
Es ist das zentrale Vermächtnis aller Akteure, dass man sich in dieser Zeit am Ende einvernehmlich verständigen konnte. Das politische System wurde dabei massiv umgebaut.
Die Gewaltentrennung, eine zentrale Forderung seit der Aufklärung, wurde eingeführt. Fürst und Volk erfuhren eine gewisse Gleichstellung als die beiden massgebenden Souveräne. Liechtenstein hat damit im internationalen Vergleich einen sehr grossen Schritt in Richtung moderne Demokratie gemacht – und das, ohne die Monarchie abzuschaffen, wie dies in anderen Ländern teils gewaltsam passiert ist. Bis auf einige Scharmützel war es in Liechtenstein im Wesentlichen eine friedliche Revolution, die eine politische Zeitenwende eingeläutet hat. Damit war es mehr als nur eine dem aktuellen Zeitgeist huldigende Strömung, die Partikularinteressen im Sinn hatte, sondern die Umsetzung des breiten Wunsches nach lebendiger Volksbeteiligung am Staatswesen, eine Errungenschaft, welche die Verfassung von 1921 bis heute garantiert.
Im Sinne der Gewaltentrennung schuf die neue Verfassung eine moderne, zeitgemässe Gerichtsbarkeit. Denn eines der vordringlichsten Postulate der Reform war die Verwirklichung des Rechtsstaats. So wurde durch die Verfassung alles staatliche Handeln an Gesetze gebunden, die Verwaltung unter verwaltungsgerichtliche Kontrolle mit dem Verwaltungsgerichtshof gestellt und zum Schutz der verfassungsmässig gewährleisteten Rechte ein Gerichtshof des öffentlichen Rechts geschaffen. Damit waren grundsätzlich alle Verwaltungsakte des Staats der unabhängigen gerichtlichen Kontrolle unterstellt. Der moderne Rechtsstaat gewährt und sichert ausserdem die Grundrechte. Auch in dieser Hinsicht fand gegenüber der konstitutionellen Verfassung von 1862 ein grundlegender Wandel statt. Aus den Rechten der Landesangehörigen als objektive Anordnungen der Obrigkeit wurden subjektive und gerichtlich durchsetzbare staatsbürgerliche und politische Rechte.
Blicken wir nun noch auf den weiteren Werdegang unserer Verfassung: Die Verfassung von 1921 erfuhr zwischenzeitlich viele Änderungen, u.a. durch die Einführung des Verhältniswahlrechts 1939, die Reorganisation der Regierung hinsichtlich Grösse, Bestellung und Amtsdauer 1965, die Einführung des Frauenstimm- und -wahlrechts 1984, die Erhöhung der Zahl der Landtags-abgeordneten 1988, die Gleichberechtigung von Mann und Frau 1992 und das Staatsvertragsreferendum 1992. Besonders die sogenannte Verfassungsdiskussion, die von 1992 bis 2003 die politische Diskussion beherrschte, hat teilweise tiefe politische Gräben hinterlassen, die bei manchen Akteuren bis heute nachwirken.
Veränderungen von Verfassungen führen eben oft zu Emotionen und Fragen in der Bevölkerung, und werden massgebliche Inhalte in einer Verfassung geändert, dann wird das regelmässig emotional diskutiert. Die Zeit ist aber ein grosser Heiler, und so sind heute auch in Liechtenstein viele der erwähnten Änderungen weitgehend unumstritten, weil sie durch die Bevölkerung im demokratischen Prozess mitgetragen und schliesslich entschieden wurden. Wenn umstrittene, einer Entscheidung an der Urne zugeführte Verfassungsänderungen - wie fast immer bei Volksabstimmungen - am Ende auch Gewinner und Verlierer produzieren, so ist dies eben auch ein Teil des Wesens der Demokratie und wird allseits respektiert.
Lassen Sie mich abschliessend noch einen Blick nach vorne werfen. Auch unsere jetzt geltende Verfassung ist nicht in Stein gemeisselt. Sie wird immer wieder Reformen erleben.
Wenn wir uns die Entstehungszeit der Verfassung, also die Jahre 1918 – 1921, vor Augen führen, müssen Veränderungen nicht zwangsläufig zu unheilbaren Zerwürfnissen führen. Wenn wir unsere Verfassung hochhalten und ihr die Bedeutung zukommen lassen, die sie verdient, können wir auch bei politisch unterschiedlichen Ansichten respektvoll miteinander umgehen. Auch die angesichts der gegen-wärtigen Pandemie statt-findenden kontroversen politischen Meinungsäusserungen sind, zumindest bis zu einem gewissen Punkt, von unserer Verfassung gedeckt und zeigen das Funktionieren des Rechtsstaates auf. Wer anderer Meinung ist, kann den verfassungsmässig garantierten Rechtsweg beschreiten.
Kurz zusammengefasst: In den letzten 100 Jahren hat unsere Verfassung zu einer massiven Stärkung der Volksrechte und zu einem wirtschaftlichen Aufschwung ohnegleichen geführt. Wir leben in einem einzigartigen Staatswesen, das monarchische und direktdemokratische Elemente zu einem gemeinsamen Ganzen vereint.
Ich wage daher eine Prognose: Wenn wir die Ursprünge und Entstehungsgeschichte unserer Verfassung nicht vergessen und ihre zentralen Werte wie Rechtstaatlichkeit, Achtung der Grundwerte und ausgewogene Machtverteilung weiter hochhalten, werden wir in Liechtenstein auch in Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit in Frieden und Wohlstand leben können.
Wir können die Verfassung – und vor allem ihre Entstehungsgeschichte mit den Schlossverhandlungen und Schlossabmachungen – schliesslich als gutes Beispiel dafür nehmen, dass wir in Liechtenstein sehr viel erreichen und verändern können, wenn wir das Verbindende vor das Trennende stellen. Hier sind beide Souveräne gleichermassen gefordert. Mit einer gewissen Portion Weitsicht, wie sie auch die Begründer der Verfassung von 1921 an den Tag gelegt haben, werden uns auch künftige Reformen zum Wohle Aller auf Basis unserer Verfassung gelingen.
Zeittafel: Der Weg zur Verfassung von 1921
1852
Zoll- und Steuerverein zwischen Liechtenstein und Österreich.
1862
Neue Verfassung gewährt der Bevölkerung wichtige Grundrechte. Sozial homogene Bevölkerungsstruktur offenbart keine Bruchlinien: Gründung politischer Parteien ist kein Thema.
1912/13
Erste öffentliche Auftritte Wilhelm Becks mit klaren Bekenntnissen zu sozialerer Politik und Opposition gegen etablierte Machtinstrumente. (Bauern-Petition, Kritik am Kirchenneubau in Triesenberg)
1914
Ausbruch des 1. Weltkriegs. Liechtensteins veröffentlichte Meinung zeigt grosse Sympathien für die Mittelmächte (Deutsches Reich, Österreich). Aufgrund des Zollvertrags wurde die Neutralität Liechtensteins angezweifelt. Wilhelm Beck gründet die «Oberrheinischen Nachrichten» als Gegenstück zum «Volksblatt». Damit bringt er neue Ideen in Liechtensteins politische Landschaft ein.
Die Inflation während des Krieges sowie die steigende Arbeitslosigkeit schaffte Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Zudem wurde der Reise- und Handelsverkehr mit der Schweiz erschwert. Bei den Landtagswahlen 1914 zieht Wilhelm Beck mit drei Mitstreitern «der neuen Richtung» in den 15-köpfigen Landtag ein. Diese Gruppe brachte Vorstösse für mehr Gewerbefreiheit und sozial Schwächere ein.
1918
Im Frühjahr kam es zur Gründung der christlich-soziale Volkspartei. Sie forderte die Stärkung der politischen Volksrechte und die parlamentarische Regierungsform. Liechtensteiner sollten in Verwaltung und Regierung federführend sein. Zudem forderten sie eine Loslösung von Wien. Im neu gewählten Landtag forderte die Volkspartei eine Verfassungsreform unter diesen Vorzeichen. Am 7. November sollte der fürstliche Landesverweser von Imhof abdanken, was von den vom Fürsten bestellten Abgeordnten abgelehnt wurde. Die Novemberkrise und die folgende Staats- und Verfassungskrise führten zu mehr Bewegung für die demokratische Sache. Eine Übergangsregierung aus Liechtensteinern wurde gegründet unter de Vorsitz von Martin Ritter. Diesem Ausschuss gehörte auch Wilhelm Beck an. Es entbrannte ein Streit rund um die Rechtmässigkeit dieses Vorgangs. Prinz Karl übernahm statt Ritter nun den Vorsitz des Ausschusses.
Im Dezember gründete sich als Reaktion die Fortschrittliche Bürgerpartei. Sowohl VP und FBP bekannten sich zur Monarchie, wobei die VP aufs Tempo drückte, was Reformen für mehr demokratische Mitsprache angeht. Es formierte sich auch eine ausserparlamentarische Opposition: Die Stimmung in der Bevölkerung war angeheizt und ein breitgefächertes Auflehnen gegen die bestehenden Autoritäten war spürbar.
1919
Die Zeit war politisch bewegt. Liechtenstein befand sich in einer veritablen Finanzkrise, Währungsverfall und Arbeitslosigkeit und die Verhandlungen mit der Schweiz kamen ins Stocken. Der Zollvertrag mit Österreich wurde aufgekündigt. Wilhelm Beck präsentiert seinen Verfassungsentwurf.
1920
Dr. Josef Peer, ehemaliger Bürgermeister der Stadt Feldkirch, sollte zum Landesverweser berufen werden. Dagegen formierte sich Widerstand seitens der Volkspartei und deren Sympathisanten. Sie protestierten im Land und teilten per Depeschen nach Wien mit, «die liechtensteinische Ehre sei mit einer Ausländerregierung unvereinbar.» Zudem wurde dem Fürsten die ständige Landesabwesenheit vorgeworfen. Die Bürgerpartei machte für Peer mobil, machte dabei aber einen hilflosen und Ideenarmen Eindruck und wurde in den Verhandlungen zwischen Fürst und Volkspartei zu einer Statistin. Der Druck der Strasse wurde zu gross. Obwohl einige Volksparteiler auch dem Republikanismus nahestanden, setzte sich Wilhelm Beck für Verhandlungen über eine neue Verfassung mit starken Rechten des Monarchen ein. Am 10. September wurden die fünf Gesprächsrunden auf dem Weg zu einer neuen Verfassung, die «Schlossabmachungen», gestartet. Dabei waren Wilhelm Beck, Gustav Schädler und Josef Peer anwesend. An den folgenden Verhandlungstragen machte das Fürstenhaus, Fürst Johann II. war in Liechtenstein zu besuch, grosse Zugeständnisse. Die zentralen Forderungen des Verfassungsentwurfs von Wilhelm Beck fanden Eingang in die neue Verfassung.
1921
Dr. Josef Peer arbeitete auf Basis der Schlossabmachungen einen Verfassungsentwurf aus. Am 24. August wurde die Verfassung im Landtag einstimmig angenommen, am 5. Oktober von Prinz Karl und Regierungschef Josef Ospelt unterzeichnet. Am 24. Oktober 1921 trat die neue Verfassung in Kraft.