«In alpenländischer Allianz eine Lanze für die direkte Demokratie gebrochen»
Zeitgeschehen im Fokus (Link): Was war das Ziel der Debatte?
Christoph Wenaweser: 2007 hat sich der Europarat einen «Code of Good Practice on Referendums» gegeben. Mit der nun zur Debatte und Beschlussfassung anstehenden Entschliessung sollten die Regeln zur Durchführung von Referenden in den Mitgliedstaaten des Europarates und deren Einhaltung verbessert werden.
Welches sind aus Ihrer Sicht die Kernpunkte der Entschliessung?
Geschrieben wurde wie so oft sehr viel. Meiner Auffassung nach geht es im Wesentlichen aber um Fragen der für Referenden zulässigen Inhalte, die Information über deren Inhalte und um erforderliche Quoren für Referenden.
Wird in der Entschliessung das Wesentliche der direkten Demokratie und ihrer Institutionen erfasst?
Leider macht die Entschliessung schon einmal keinen Unterschied zwischen Referendumsrecht als Vetokompetenz für die Stimmberechtigten und dem Initiativrecht als deren Gestaltungskompetenz. Zudem wird den Mitgliedsstaaten mit dieser Entschliessung eher empfohlen, die Hürden für die Zulässigkeit von Volksbegehren hoch zu halten, was dem nicht nur verfassungsgewollten, sondern in Liechtenstein und der Schweiz auch zutiefst verinnerlichten direktdemokratischen politischen Denken und Handeln zuwiderläuft.
Wie wirkte die Debatte auf Sie?
Fangen wir beim Abstimmungsergebnis über diese Entschliessung an: 113 Ja-Stimmen standen nebst einigen Enthaltungen nur sieben Nein-Stimmen entgegen. Diese stammten von vier von fünf anwesenden Schweizer Vertretern, von den beiden Liechtensteiner Vertretern und von einem Vertreter Österreichs. Wir haben sozusagen in alpenländischer Allianz eine Lanze für die direkte Demokratie gebrochen. Je länger die Debatte ging, desto mehr überraschte mich, wie sehr in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, dem Hort von Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten und der Demokratie, Skepsis oder sogar Angst vor der direkten Demokratie herrscht.
Angst und Skepsis herrschen also gegenüber den Menschen, die in der direkten Demokratie aktiv werden und von ihren Rechten Gebrauch machen. Warum ist das so?
Die Ursache lässt sich nur vermuten. Ganz wesentlich hierfür dürfte sein, dass vielen europäischen Staaten im Gegensatz zur Schweiz oder Liechtenstein der Umgang mit den niederschwellig angesetzten direktdemokratischen Volksrechten wie Referendums- und Initiativrecht unvertraut ist. Ob im Einzelfall auch Angst vor dem Verlust parlamentarischer Machtbefugnisse mitschwang, ist spekulativ.
Inwieweit ist es mit der direkten Demokratie vereinbar, dass Parlamentarier festlegen, wieviel Demokratie sie ihren Wählern zugestehen wollen?
Das ist der entscheidende Punkt, in dem sich die Schweiz und Liechtenstein wohl von den meisten anderen Mitgliedstaaten des Europarates unterscheiden. In der direktdemokratischen Ausprägung unserer Länder ist eine laufende Auseinandersetzung zwischen dem Volk und seinen Vertretern im Parlament und im Falle Liechtensteins zusätzlich zwischen dem souveränen Fürst und dem Volk und damit der Konsens auch in Sachfragen zwingend erforderlich, während Parlamentarier vieler anderer Staaten eher sicherzustellen versuchen, dass sie ihre Arbeit als gewählte Mandatare ohne permanente Rechenschaftspflicht erledigen können.
Was wäre die richtige Haltung eines Parlamentariers?
Ich erlaube mir kein Urteil über richtig oder falsch in anderen Staaten, bin aber bezogen auf liechtensteinische Verhältnisse ein überzeugter Verfechter der direkten Demokratie. Die Bürgerinnen und Bürger sollen nicht nur alle vier Jahre an der Wahlurne entscheiden, wer ihre Interessen vertritt. Sie sollen mit dem Referendumsrecht vielmehr unmittelbar als Korrektiv wirken können. Auch das Initiativrecht als Gestaltungskompetenz hat seinen unverzichtbar wichtigen Platz in der direkten Demokratie. Direkte Demokratie erfordert permanente Nähe zu den Wählern und Sorgfalt in den Entscheidungen.
Die Entschliessung spricht von den Risiken einer geringen Beteiligung an Referenden?
Diese Befürchtung kann ich aus liechtensteinischer und wohl auch aus schweizerischer Erfahrung überhaupt nicht teilen. Die Geschichte zeigt, dass die Souveräne von ihren verfassungsmässigen Kompetenzen massvoll und zweckmässig Gebrauch machen. Entscheidungen an der Urne zeugen in aller Regel von Verantwortungsbewusstsein und politischer Reife und sie werden nicht inflationär. Die Stimmbeteiligung ist in Liechtenstein jeweils hoch und repräsentativ für die gesamte Bevölkerung.
Ein in der Strassburger Debatte häufig gehörtes Argument lautete, «Referenden nützen Diktatoren und Despoten».
Diese Aussage verstehe ich überhaupt nicht, gerade in einer Zeit, in der sich die Bevölkerungen vieler Staaten abgehängt fühlen von der Classe Politique, vom Perpetuum Mobile der Einmischung in immer mehr Lebensbereiche durch internationale Organisationen und deren wohlbestallte, jeder demokratischen Legitimation entbehrenden Technokraten, sich abgehängt fühlen von Regierungen, welche nicht fähig oder willens sind, dieser Entwicklung Grenzen zu setzen.
Und was ist Ihrer Meinung nach zu tun?
Ein Allzweckmittel für alle Staaten und politischen Ausgangslagen gibt es nicht. Auf jeden Fall sollte man nicht erst auf die Bevölkerung hören, wenn sie von Ohnmachtsgefühlen getrieben streikt, in gelben Westen oder bei Montagsdemonstrationen auf die Strasse geht. Referendums- und Initiativrecht sind aus meiner Erfahrung Stabilitätsfaktoren der Demokratie und alles andere als ein Nährboden für Despotismus oder andere ungute Strömungen.
Interview Thomas Kaiser, Strassburg für «Zeitgeschehen im Fokus»