100 Jahre Verfassung – 100 Jahre Verantwortung
von Rupert Quaderer
Die Zeit am Ende und nach dem Ersten Weltkrieg war weltweit eine Phase des allgemeinen Umbruches, teilweise revolutionärer Veränderungen. Liechtenstein geriet als Kleinstaat in den Einflussbereich dieser Neuordnung der staatlichen und gesellschaftspolitischen Verhältnisse. Unzufriedenheit mit den innenpolitischen Zuständen hatte sich teilweise aber schon vor Ausbruch des Krieges manifestiert.
All diese Auswirkungen des Ersten Weltkrieges führten 1918 zur Bildung von politischen Parteien. Die Christlich-sozialeVolkspartei unter der Führung von Wilhelm Beck forderte eine Demokratisierung und Nationalisierung der Regierung und des Parlamentes. Die Fortschrittliche Bürgerpartei, der eine entsprechende dominierende Persönlichkeit fehlte, sprach sich für Reformen «im Rahmen der Gesetze» aus.
«Man gebe dem Volke nur sein volles Recht und Freiheit»
Nach dem Scheitern des nicht verfassungskonformen Vorgehens vom 7. November 1918, das zum Rücktritt von Landesverweser Baron Leopold von Imhof geführt hatte, wurde das 9-Punkte-Programm im Dezember 1918 als Grundlage für eine Verfassungsrevision geschaffen. In den folgenden Jahren rangen die Exponenten der jungen Parteien in harten und heftigen Auseinandersetzungen um die Erfüllung und Interpretation dieser Grundlage. Die Bereitschaft des Fürsten, Zugeständnisse zu machen und der Wille der Volkspartei, im Rahmen der gesetzlichen Grenzen die Reformen vorzunehmen, bildeten die Voraussetzung für die Verfassungsrevision.
Das Ringen um die Inhalte der Revision prägte die Jahre bis 1921. Wohl gab es nach 1918 keine revolutionären Aktionen in Liechtenstein. Die Aufmärsche, die verlautbarten Resolutionen, die vielen Verhandlungsgespräche und Disputationen sowie die heftigen Zeitungsfehden waren aber teilweise doch von Drohgebärden begleitet, die den Machtinhabern klar machten, dass Veränderungen unumgänglich waren.
Neue Selbstdefinition des Volkes
Verhandelt wurde über diejenigen Inhalte, die von der Opposition thematisiert wurden; durchgesetzt wurden jene Forderungen, deren Bedeutung von der Mehrheit der führenden Kräfte erkannt wurde und für deren Durchsetzung die Mehrheit des Volkes willens war, sich einzusetzen nach dem Grundsatz: «Die Freiheit wird einem nicht gegeben, man muss sie nehmen.» (Meret Oppenheimer, 1975)
Oder wie Wilhelm Beck es in den «Oberrheinischen Nachrichten» vom 22. Februar 1919 formulierte: «... Man gebe unserem Volke nur sein volles Recht und Freiheit, oder besser: schaffe sich das Volk Recht und Freiheit selbst, denn noch kein Volk, das sich nicht selbst geholfen, ist von sonst dazu gekommen. [Das Volk] ist freier geworden und wird auf die Dauer in seiner Freiheit nicht mehr zu unterdrücken sein. Was wir heute nicht erreichen, das wird in den nächsten Jahren möglich sein. Die Regierung soll für das Volk, und nicht das Volk für die Regierung da sein;...» In diesen Aussagen leuchtet eine neue Selbstdefinition des Volkes doch deutlich durch.
Mehr demokratische Mitsprache
Die Hauptinhalte der Verfassungsrevision, die in ihrem Ergebnis wohl als eine Totalrevision bezeichnet werden darf, stellten insgesamt eine prinzipielle Neuverteilung der Kompetenzen dar. Der Fürst verzichtete zugunsten eines stärkeren Mitspracherechtes des Volkes darauf, «in sich alle Rechte der Staatsgewalt» zu vereinigen. Allerdings blieb die Ausübung der politischen Rechte auf die männlichen Wahlberechtigten begrenzt.
Regierungschef Gustav Schädler urteilte 1926 in einem Rückblick auf die Entstehungszeit der Verfassung von 1921, diese sei infolge grosser Mängel, welche «die veraltete Verfassung von 1862 aufwies und der demokratischen Entwicklung, die sich in Liechtenstein seit langem geltend gemacht [habe], zustande gekommen».
Ein komplexes Zusammenspiel der Staatsgewalten
Die wesentlichen Punkte, die 1918-1921 die Auseinandersetzungen dominierten, bezogen sich auf den Ausbau der demokratischen und parlamentarischen Grundlage, insbesondere die Forderung nach einer «parlamentarischen»(d. h. dem Landtag verantwortlichen) und «nationalen» (d. h. mit Liechtensteinern besetzten) Regierung. Dazu kam der Anspruch auf die Demokratisierung der Staatsverwaltung, d. h. nach einer Besetzung der Ämter mit Liechtensteinern, ausgewählt und bestimmt durch liechtensteinische Gremien. Die Rechtsprechung sollte eine verbesserte Unabhängigkeit erlangen, was man sich vor allem von einer Loslösung von Wien erhoffte. Ein weiteres wichtiges Element war die Stärkung des Landtages, die sich in der Mitbestimmung bei der Wahl der Regierung zeigte. Der Ausbau der direktdemokratischen Volksrechte (Initiative und Referendum auf Verfassungs- und Gesetzesebene), der Grundrechte (Pressefreiheit, Vereinsfreiheit, Versammlungsfreiheit) sowie die dem Staatsgerichtshof zuerkannte Verfassungsgerichtsbarkeit bildeten weitere Eckpfeiler dieser Totalrevision.
Ein Kompromiss mit all seinen Mängeln
Nicht alle hängigen und unterschwellig vorhandenen Probleme wurden einer Lösung zugeführt. Das Ergebnis der Verfassung von 1921 stellt einen Kompromiss mit all seinen Mängeln dar. Eine Verfassung wie auch ein Staatsgefüge ist eben - wie die Menschen, die es schaffen - nie etwas Abgeschlossenes und Vollkommenes.
Oder wie Wilhelm Beck es im Landtag am 30. Dezember 1925 als Grundidee seiner verfassungsrechtlichen Auffassung formulierte: «Das ist der Sinn der neuen Verfassung. Sie sind nicht Untertanen, sondern Sie sind Träger und Mitbildner des Staatswillens.»
«...dass ein Volk sie handhabe und ausbaue...»
Als letzter Gedanke sei eine Meinung aus dem Jahre 1921 angeführt:«Die neue Verfassung hat [...] einen bedeutenden Fortschritt im Sinne der neuzeitlichen Auffassung gemacht, und man kann im allgemeinen sagen, dass die Verfassung, wenn sie auch noch lange nicht allem entspricht, eine ziemlich moderne ist und nur eines, aber das allerwichtigste voraussetzt, dass ein Volk sie handhabe und ausbaue, das ihrer würdig ist.» (Oberrheinische Nachrichten vom 19. Oktober 1921)